Das Ende vom Halle-Prozess ist erst der Anfang seiner Aufarbeitung - unsere Eindrücke von den letzten Prozesstagen

Im Dezember 2020 sind wir nach Magdeburg gefahren, um den letzten beiden Tagen vor der Urteilsverkündung im Prozess gegen den Attentäter von Halle als Zuschauer:innen beizuwohnen und unsere Solidarität der Nebenklage und der aktiven Prozessbeobachtung zu zeigen. Es war eine sehr besondere Erfahrung, die wir teilen möchten, erstens, um für uns die Geschehnisse der beiden Tage zu verarbeiten, und zweitens, um zu berichten -  sowohl über das Empowernde als auch über das Schreckliche und Unbegreifliche. Uns geht es dabei explizit um die Erfahrung als Zuschauer:innen und Freund:innen, nicht als "direkt" Betroffene oder neutrale Journalist:innen. Wir, das sind Alex und Moritz.

Jeden Prozesstag fand gegenüber vom Gerichtsgebäude eine solidarische Kundgebung statt. Um das über den langen Zeitraum zu ermöglichen, wechselten sich Initiativen mit der Organisation ab.

Jeden Prozesstag fand gegenüber vom Gerichtsgebäude eine solidarische Kundgebung statt. Um das über den langen Zeitraum zu ermöglichen, wechselten sich Initiativen mit der Organisation ab.

Als kurze Einordnung: Am 9. Oktober 2019, an Yom Kippur, versuchte der Attentäter in die Hallesche Synagoge einzudringen, um dort Jüdinnen und  Juden zu töten. Während er versuchte, die Tür am Toreinang aufzubrechen, wurde er von einer Passantin angeprochen, die er daraufhin direkt erschoss. Sie hieß Jana L. und wurde 40 Jahre alt. Der Attentäter scheiterte an der Tür und entschloss kurzfristig, sein Mordziel zu ändern, um vermeintliche Musliminnen und Muslime zu töten, die er in einem nahegelegenen Dönerimbiss anzutreffen vermutete. In seinem antisemitischen und rassistischen Weltbild voller Verschwörungen erklärte er später, von den "Juden" als "Ursache" für den "großen Austausch" hin zu den "Muslimen" als "Symptom" sein Ziel geändert zu haben. Am Dönerimbiss "Kiezdöner" erschoss er einen Besucher. Er hieß Kevin S. und wurde 20 Jahre alt. Die ersten Polizeiwagen waren 20 Minuten nach dem Beginn des Anschlags am Imbiss angekommen. Der Täter versuchte, auf die Polizei zu schießen und floh mit einer leichten Verletzung durch polizeiliche Schüsse in seinem Wagen. Auf dem Fluchtweg versuchte er spontan und aus seiner rassistischen Überzeugung heraus Aftax I. tödlich anzufahren. Im weiteren Verlauf bedrohte und verletzte er zwei Personen, als er deren Auto für die Weiterflucht nehmen wollte, und wurde schließlich knapp zwei Stunden nach Beginn des Anschlags 40km von Halle weg festgenommen. Die Geschehnisse vom 9. Oktober 2019 können ausführlicher an anderer Stelle nachgelesen werden, beispielsweise verweisen wir auf die Seite democ.de, wo der Prozess und damit die Tatrekonstruktion pro Prozesstag dokumentiert sind.

Wir müssen im Nachhinein zugeben, dass wir den Prozess weniger intensiv verfolgt haben, als wir es jetzt gerne getan hätten. Das ist eine erste Einsicht: dass wir sehr viel verdrängt haben, von dem, was wir nicht wahr haben wollten. Seit dem kurzen Ausbruch des Attentäters im Juni 2020 und der gefühlt nebensächlichen Berichterstattung darüber, und mit dem Beginn des Prozesses am 21. Juli 2020, ist das Thema jedoch Stück für Stück wieder ins Bewusstsein gerückt. Wir wussten, dass es der größte Prozess zu einem antisemitischen Anschlag in Deutschland nach 1945 ist, wir wussten, dass unsere Freundin Naomi als Nebenklägerin auftritt, wir wussten, dass unser Freund Nathan aus Halle als Zuschauer zu jedem Prozesstag fährt, manchmal in Begleitung und manchmal allein. Trotzdem haben wir uns als selbstwahrgenommene Nicht-Betroffene passiv verhalten. Wir würden es als ein Verhalten beschreiben, bei dem man sich nicht traut, die vermeintlich stärker betroffenen Personen zu dem Thema zu fragen, weil man nicht weiß, ob das gewollt ist. Durch Gespräche mit Nathan ist unsere (un)bequeme Passivität zurecht angeprangert und schließlich gebrochen worden. Die zweite Erkenntnis umfasst somit: Wir sollten unsere Hilfe anbieten, wir sollten fragen, wie es den anderen geht, was sie brauchen. Sie werden uns schon abweisen, wenn es zu viel ist. Und bis dahin ist es ein Zeichen von Support und Freundschaft. Und: wir sollten ebenso darauf achten, was es mit uns macht. Abgesehen davon, dass Alex selbst anderthalb Stunden vor dem Geschehen an einem der Tatorte war, auch als "nicht-direkt" Betroffene, die in weit entfernten Städten leben, geht es uns nicht gut. In einer Gesellschaft, in der das Leben weitergeht und niemand uns oder sich selbst fragt, was dieser Anschlag eigentlich für uns alle bedeutet. Genauso wie wir unsere Freund:innen sehr wenig gefragt haben. 

Zunächst hat Alex sich entschieden, zu dem Prozess zu fahren. Der Initiative und Planung schlossen sich zwei weitere TaMaRniks an, von denen Moritz schließlich mitkommen konnte. Auch wenn wir im Nachhinein gern öfter da gewesen wären, mit Corona war die Planung, aus Bremen und Bielefeld anzureisen, für sich eine Herausforderung, und wir sehen es unter den Pandemiebedingungen als großen Erfolg an, dass unsere Reise überhaupt stattfinden konnte. In Vobereitung auf die Fahrt erhielten wir von Naomi einen Input online über den Verlauf und die Bedeutung des Prozesses, zudem ordnete sie für uns bestimmte Aspekte thematisch ein, auf die wir uns einstellen konnten (wie beispielsweise das Verhalten des Angeklagten im Prozess). Nathan wies uns ein in das Prozedere eines regulären Besuchs als Zuschauer:in, inklusive wann wir da sein sollten, was wir mit rein nehmen dürfen etc.

Als Zuschauer:innen saßen wir im Saal hinter einer Glasscheibe. Von Nathan wussten wir, dass der einzige aktive Beitrag unsererseits sein konnte, dann aufzustehen, wenn man etwas unterstützen oder loben wollte - kurz gesagt, wenn man normaler Weise applaudiert hätte. Das Applaudieren wurde im Laufe des Prozesses irgendwann den Zuschauer:innen untersagt. Uns wurden FFP2-Masken ausgehändigt und es wurde alle 30-40 Minuten eine Lüftungspause gemacht. 

Am ersten Tag, dem 24. Prozesstag, hatten die letzten Nebenkläger:innen und ihre Anwält:innen das letzte Wort. Dieser Tag war sehr bewegend. Wir haben ein Bild bekommen, dass die Nebenklageanwält:innen sich zum Teil sehr unterschiedlich positionieren. Manche zielten darauf, das Strukturelle von Antisemitismus und das Gemeinschafts- und Identitätsbildende von Online-Foren intensiver zu untersuchen. Manche betonten die klare Trennung zwischen Politik und Justiz und sprachen sich gegen Instrumentalisierung des Prozesses für das Politische aus. Und andere vertraten die Polizei, die ebenfalls Teil der Nebenklage ist. Insgesamt eine kuriose, gemeinsame Besetzung der drei Anwaltsreihen im Prozesssaal. Die Nebenkläger:innen, die in der Synagoge waren, der Kiezdönerbesitzer Ismet Tekin sowie der angefahrene Aftax I. haben diesen langen Prozess gemeinsam durchgestanden und die letzten Worte der jüdischen Nebenkläger:innen waren zum Großteil aufeinander abgestimmt, um Wiederholungen zu vermeiden und alle wichtigen Aspekte zu erläutern, die die Nebenkläger:innen sagen wollten. Auch Naomis Aussage war an diesem Tag. Direkt vor ihrer Aussage schritt ihre Anwältin Kati Lang ein, um die Richterin sowie die Verteidigung darauf hinzuweisen, dass der Angeklagte bei der sprechenden Nebenklägerin zuvor verhöhnend Zettel hochgehalten habe, was im Gegensatz zu der Anwältin beide scheinbar nicht gesehen haben wollten. Als der Verteidiger Weber der Anwältin blöd kam, weil er sie als weibliche Anwältin offensichtlich wenig ernstnahm, sagte Naomi ins Mikrofon: "Für Sie immer noch Frau DR. Lang." Anschließend folgte ihre Rede, als angehende Rabbinerin zitierte sie Passagen auf Hebräisch, vor einem deutschen Gericht, keine 5 Meter vom Attentäter und von der Richterin entfernt. Den Satz von Rabbi Abraham Heschel "There is meaning beyond absurdity" bezog sie auf die aktuelle Situation und machte seine Worte schließlich zu ihren. Die Auseinandersetzung mit der Absurdität wird mit dem Ende des Prozesses nicht vorbei sein, sondern erst richtig losgehen, wie Naomi ausführte. Weitere bestärkende Momente durch Auftritte von bestimmten Anwälten und Nebenkläger:innen fanden noch mehrmals an diesem Tag statt. Hervorzuheben ist dabei auch Rechtsanwalt Hoffmann, der mitunter auch in der Nebenklage der NSU-Prozesse sowie der Prozesse gegen die rechtsterroristische "Gruppe Freital" sitzt. Er hob besonders hervor, dass Online-Netzwerke und rechte Plattformen stärker unter die Lupe genommen gehören, um die ideologischen Strukturen hinter der Tat zu begreifen: Ein rechtes soziales Netz online ist auch ein echtes rechtes soziales Netz und das ist vielfach nicht so gesehen worden. Rechtsanwältin Blasig-Vonderlin wies auf ein Erstarken von rechten Bewegungen in Deutschland hin und benannte dabei PEGIDA, Querdenken, Reichsbürger sowie die Anastasia-Bewegung. In weiteren Reden wurden andere wichtige Punkte aufgegriffen bzw. Benanntes betont: Dass der Täter kein Einzeltäter ist, dass Polizei und Staatsanwaltschaft die strukturellen Probleme bei sich anerkennen sollen, dass es mehr Bildung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu Betroffenheit von Antisemitismus, Rassismus und Frauenhass geben muss, und dass bei Angriffen der Fokus der Öffentlichkeit auf den Betroffenen und ihren Geschichten und nicht auf den Tätern liegen sollte. Damit kann eben eine Solidarität mit den Betroffenen und mehr Empathie in der Gesellschaft erreicht werden. Auch wenn die Presse sich überwiegend an die Bitte der Nebenklage gehalten hat, zumindest nicht den vollständigen Namen des Täters zu verwenden, war es doch ekelhaft, wie die Fotograf:innen im Saal sich jeden Tag für mehrere Minuten vor den Täter gestürzt haben, um ihn abzulichten und kein vergleichbar hohes Interesse an der Nebenklage im Saal gezeigt haben. Es gab auch viele Reden, mit denen wir weniger einverstanden waren, wo beispielsweise der Nebenklageanwalt der Polizei diese als "die stillen Helden des Tages" bezeichnete, oder ein direkter hufeisenförmiger Vergleich des Täters mit der RAF gemacht wurde, als hätte man im rechten Spektrum keine (NSU-)Beispiele. Das wollen wir gar nicht groß ausführen, aber es soll auch nicht falsch ankommen, als hätte die gesamte Nebenklage bei uns Euphorie ausgelöst. Wir waren vor jedem Satz angespannt, was kommt, und welche Gedanken und Gefühle es auslöst. Im Anschluss an diesen ereignisreichen Tag tat es uns gut, den Abend gemeinsam zu verbringen. Trotz der vielen empowernden Momente war der Aufenthalt im Gericht sehr anstrengend und wir wussten ebenfalls, dass der zweite Tag mit dem Schlussplädoyer der Verteidigung und des Täters selbst nochmal sehr schwer werden sollte.

Bereits ganz zu Beginn des zweiten Prozesstags war uns die Richterin negativ aufgefallen: Sie erwähnte, dass die Nebenklage durch ihre Ankunft "erst" eine halbe Stunde vor Prozessbeginn den Einlass der Presse verzögert hat, welche daraufhin im Regen hätte stehen müssen, weswegen der Prozesstag erst um 10 Uhr anfangen konnte. Dafür rügte sie die Nebenklage und fügte hinzu, dass sie bei der Urteilsverkündung am 21. Dezember der Presse den Vortritt in das Gebäude ließe, falls die Nebenklage wieder erst so kurzfristig vorher erschiene, und, egal ob mit oder ohne Nebenkläger:innen, um 11 Uhr beginnen werde. Dass dabei der Respekt gegenüber der deutschen Pünktlichkeit ihrerseits offensichtlich über dem Respekt gegenüber den Nebenkläger:innen stand, hat uns viel Vertrauen genommen, was wir von staatlicher Seite als Antwort auf diesen Prozess erwarten können.

Der Hauptverteidiger RA Weber führte inzwischen aus, weswegen die Besucher:innen der Synagoge nicht als Opfer des versuchten Mords zu werten seien. Wie lächerlich diese Verteidigungsargumentation letztlich ist, wurde mit den Ausführungen des Täters schnell deutlich. Bei seinen wahnhaften antisemitischen Tiraden war es abermals nicht die vorsitzende Richterin, die ihn unterbrach, sondern die Anwält:innen der Nebenklage. Diese schrien laut: "Unterbrechen!" oder "Stoppen Sie das!", nachdem der Täter in seinem Schlussplädoyer den Straftatbestand der Shoahleugnung begang. In der Folge wurde unterbrochen und nach der Pause gab die Richterin dem Täter noch zweimal die Möglichkeit, erneut zu Wort zu kommen, was er fast schon genervt ablehnte. All diese Verhaltensweisen, die der Richterin und der Justizbeamt:innen führen zu einer weiteren Erkenntnis: Die Strukturen dieses Rechtsstaats scheinen an dieser Stelle kein Interesse daran zu haben, Gerechtigkeit vollumfänglich durchzusetzen. Dafür müssten sie sich selbst hinterfragen und reflektieren und zumindest das Bedürfnis haben, Antisemitismus als komplexes Phänomen überhaupt begreifen zu wollen. Stattdessen wird sichergestellt, dass alles pünktlich anfängt und ja kein Schuh auf einer der Holzbänke im Warteflur vor dem Saal lehnt.

Das alles waren sehr viele emotionale Eindrücke in kurzer Zeit, auf engem Raum. Das hat teilweise auch verstört. In den Pausen auf dem kleinen Balkon gemeinsam zu essen und zu sprechen, das tat gut. Wir haben dort auch viel gelacht und Witze gemacht. Rückblickend betrachtet war das ein für uns wichtiger emotionaler Ausgleich, höchstwahrscheinlich eine Bewältigungsstrategie.

Wir haben diesen Text nicht als chronologischen Bericht verfasst, denn dies gibt es an anderer Stelle nachzulesen, und für eine inhaltliche Übertragung hätten wir auch nicht hinfahren brauchen, von der Fahrt bekamen wir etwas anderes. Wir haben uns gegenseitig bestimmt 20 Mal an diesen 2 Tagen gesagt, wie froh wir sind da zu sein. Vor Ort hat es sich wie eine Selbstverständlichkeit angefühlt, da zu sein, Naomi, Nathan und allen anderen Betroffenen im Raum unsere Unterstützung mit unserer Präsenz zu zeigen, Unterstützung für unsere Betroffenheit zurück zu bekommen, und gemeinsam wahrzunehmen, an welchem Punkt die Gesellschaft, in der wir leben, eigentlich steht. In einem Nachgespräch mit Naomi meinte sie, mit den vielfältigen Akteuren in dieser Verhandlung, die zufällig durch die Ereignisse des 9. Oktobers zusammengeworfen worden sind, hat sie ein facettenreiches Abbild der deutschen Gesellschaft erlebt. Wir finden das sehr zutreffend.

Rechte Gewalt ist real. Betroffene und Überlebende tragen Traumata davon. Die Aufgabe der Gesellschaft ist bei Angriffen und auch im Nachgang ihren Fokus auf die Betroffenen zu richten, ihnen Hilfe anzubieten, zu Demonstrationen zu gehen, die verlangen, dass so etwas nicht wieder passieren soll. Wenn sich etwas ändern soll, dann muss gesamtgesellschaftlich anerkannt werden, dass Antisemitismus, Rassismus und Misogynie tief verankert sind und sich die Situation von alleine auch nicht verbessern wird. Diese Tatsachen und das Geschehene zu verdrängen scheint ein Bewältigungsmechanismus zu sein, mit dem der Alltag erträglicher gemacht werden soll, aber zeitgleich ist die Folge eine wachsende Empathielosigkeit, durch welche die Betroffenen alleine da stehen. Sich dieser entgegen zu stellen und solidarisch mit allen Betroffenen zu zeigen ist hingegen eine moralische Notwendigkeit.

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